Vergessen

Sie hatten den letzten Nachtbus in ihre Richtung erwischt. In den Straßen war es still. Nur wenige Fenster waren noch erleuchtet, als sie den Weg zu ihrer Wohnung einschlugen. Hin und wieder fuhr ein Auto an ihnen vorbei mit Menschen, die vielleicht wie sie von einem Besuch bei der Familie gekommen und nun auf ihrem Heimweg waren.

Corinna griff nach Tommys Hand, während sie das letzte Stück des Weges schweigend am Park entlang liefen. Ruckartig blieb Tommy stehen.

„Hast du das gehört?“, flüsterte er in die dunkle Nacht. „Da weint doch jemand.“

Corinna war ebenfalls stehen geblieben und lauschte. Sie hörte es auch, ein leises Wimmern, das unweit aus dem Park kam.

„Komm, lass uns nachsehen, was da los ist.“

„Tommy, und wenn das eine Falle ist?“. Corinna zögerte. Ihr war nicht wohl dabei.

„Und wenn jemand Hilfe braucht?“, entgegnete Tommy. Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er nach Corinnas Hand und zog sie hinter sich her.

Leise und vorsichtig gingen sie den Hauptweg entlang, in die Richtung, aus der das leise Weinen kam.

„Schau, da“, flüsterte Corinna.

Auf einer Holzbank saß eine dunkle Gestalt. Der Schein der Laterne war so schwach, dass nur die Silhouette erkennbar war.

„Und nun?“, flüsterte Corinna. „Tommy, wenn das eine Falle ist?“

„Nein, das glaube ich nicht. Wer treibt sich nachts um eins bei Nieselregen freiwillig hier im Park herum?“ Aber Tommy war unschlüssig, wie er vorgehen sollte.

„Hallo?“ rief Corinna mit kläglicher Stimme, obwohl sie versuchte, alle Kraft in ihre Stimme zu legen.

Die Gestalt auf der Bank richtete sich auf und blickte in alle Richtungen.

„Michael, hier bin ich.“ Sie blickte sich immer noch suchend um, konnte aber in der Dunkelheit niemanden entdecken.

„Es ist eine Frau. Komm.“ Tommy schien erleichtert und mit entschlossenen Schritten zog er Corinna hinter sich her. In wenigen Augenblicken hatten sie die Bank erreicht und standen vor einer älteren Frau, die ein wollenes Tuch um ihre Schultern geschlungen hatte. Als sie die beiden jungen Leute vor sich erblickte, versuchte sie aufzustehen, aber es ging nicht.

„Michael, das bist du ja endlich. Du hast mich aber lange warten lassen. Komm hilf mir.“

Mit einem stummen Blick wies Tommy auf die Beine der alten Dame. Corinna verstand sofort. Nur mit einem dünnen Rock, einem Pullover und einem wollenen Tuch bekleidet, saß die alte Frau auf der Bank. Ihre Beine waren nackt und ihre Füße steckten strumpflos in ein paar flachen, schwarzen Winterschuhen.

Tommy und Corinna fassten sie je auf einer Seite unter den Arm und zogen sie von der Bank hoch.

„Michael, mir ist so kalt“, flüsterte sie und wischte sich mit den Händen die letzten Tränen aus dem verweinten Gesicht.

„Wir müssen sie in ein Krankenhaus bringen, sie scheint völlig unterkühlt zu sein“, flüsterte Corinna. Sie hakten die alte Dame unter, die sich, sichtlich geschwächt und frierend, von ihnen zur Straße führen ließ.

Sie mussten nicht lange auf ein Taxi warten. Erschöpft ließ sich die Frau auf die Rückbank fallen.

„Wir fahren Sie erst mal in ein Krankenhaus. Dort bekommen sie etwas Warmes zu trinken und dann sehen wir weiter. Wo wohnen Sie?“

Die alte Frau schaute Corinna mit aufgerissenen Augen an.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie kaum hörbar.

„Wissen Sie, wie Sie in den Park gekommen sind?“

Sie überlegte eine ganze Weile. „Mein Sohn wollte mich abholen. Als er nicht kam, bin ich ihm entgegen gegangen, aber wir haben und wohl verpasst. Und ich habe mich auf die Bank gesetzt und auf ihn gewartet.“

Der Taxifahrer hielt vor dem Eingang der Notaufnahme. Während Tommy die nötigen Formalitäten in der Anmeldung klärte, warteten Corinna und die alte Dame im Wartezimmer der Notaufnahme. Corinna konnte einen heißen Tee organisieren, den die alte Dame hastig trank.

„Wieder jemand, der vermutlich aus einem Altersheim kommt und nicht zurück findet“, seufzte der freundliche Pfleger in der Anmeldung. „So etwas passiert hier häufig.“ Er hielt sich nicht lange mit dem üblichen Bürokram auf und rief direkt bei der Polizei an. Aus den Wortfetzen und einigen Notizen konnte Tommy entnehmen, dass sich das Schicksal der alten Dame sehr schnell aufklären würde.

„Bingo“, sagte der Pfleger, während er den Hörer auflegte.

Aus dem Haus ‚Waldfrieden‘ liegt eine Vermisstenanzeige der Heimleitung vor. Die Beschreibung passt auf Ihre Dame und die Personalien habe ich auch. Sie heißt Frieda Meinert, ist dreiundachtzig Jahre alt und dement.“

„Und was passiert nun?“, wollte Tommy wissen.

„Wir stellen Sie dem Arzt vor und wenn alles soweit in Ordnung ist, fährt die Polizei sie nach Hause.

Mittlerweile war Frieda von Corinna und einer freundlichen Krankenschwester versorgt worden. Sie hatte ein paar dicke Wollkniestrümpfe an und der heiße Tee hatte ihren bleichen, ausgezehrten Wangen etwas Farbe gegeben. Mit Heißhunger aß sie zwei gut belegte Käsebrote.

Als eine halbe Stunde später zwei Zivilpolizisten kamen, strahlte Frieda über das ganze Gesicht.

„Michael – endlich! Ich dachte schon, Du hättest mich vergessen.“

Friedas Seelenheil war wieder im Gleichgewicht und mit einem freundlichen „Danke für alles“ begab sie sich in die Obhut der beiden Polizisten.

© G. Bessen

 

Über Anna-Lena

Lehrerin im Un-Ruhestand, mit vielen Hobbys, die nichts mit dem Beruf zu tun haben. Ich lese viel, schreibe gern selber und fotografiere, was mir vor die Linse kommt.
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14 Antworten zu Vergessen

  1. Werner Kastens schreibt:

    Wir erleben gerade ähnliches mit der Frau von meinem Bruder. Sie erkennt weder ihn noch ihre Kinder.

    Das macht so sprachlos.

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  2. Edith schreibt:

    Berührend und so wahr….
    Liebe Grüße
    Edith

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  3. Gisela Benseler schreibt:

    Wirklich eine gute Geschichte.

    Gefällt 1 Person

  4. Wie gut, daß die beiden gehandelt haben, liebe Anna-Lena.
    In Demenz zu altern ist so schrecklich. Alles ist weg, jegliche Erinnerung hat sich verabschiedet, was war ist vergessen.
    Deine Geschichte ist gut, spannend und lebensnah geschrieben.
    Liebe Grüße zum Feiertag von Bruni an Dich

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  5. Babbeldieübermama schreibt:

    Eine rührende Geschichte.

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