Luftschlossgedanken

„Oma, warum schaust du immer zum Himmel hinauf?“ Die fünfjährige Nele aß einen Eierkuchen mit Blaubeeren und ihr dunkelblau gefärbter Mund war ein hübscher Kontrast zu ihren hellblauen Augen. „Tue ich das?“, fragte Annemarie, die ihre Enkelin für eine Woche zu Besuch hatte und sie jeden Tag mit deren Lieblingsessen verwöhnte.
„Ja, immer wieder schaust du hinauf, als würdest du da etwas ganz Besonderes sehen.“
„Ich sehe auch etwas Besonderes.“

Nele hob verwundert den Kopf. „Ich sehe nichts. Nur Wolken!“ Sie verscheuchte eine Biene, die auf der Terrasse in Omas Garten neugierig um Neles Teller kreiste.
„Zwischen den Wolken baue ich mein Luftschloss“, antwortete Annemarie und amüsierte sich innerlich über die immer wieder wissbegierigen Fragen ihrer Enkeltochter.
„Da kann man doch gar nichts bauen. Um ein Schloss zu bauen brauchst du Steine und Holz und Glas und ganz viel Werkzeug. Und so eine große Leiter gibt es nicht. Oma, wie willst du denn da hochkommen?“
Das war die bestechende Logik eines Kindes.

„Weißt du, Nele, wir Menschen haben dir Fähigkeit, am Tag mit offenen Augen zu träumen und so können wir ohne großen Aufwand ein Schloss nur für uns bauen, zu dem nur wir den Schlüssel haben. Und wenn uns danach ist, ziehen wir uns immer mal wieder dahin zurück.“
„Und warum baust du ein Schloss in den Wolken? Du hast doch hier dein Haus und deinen Garten und Lotti.“ Als hätte Lotti jedes Wort verstanden, hob die Dalmatinerhündin ihren Kopf und schaute Nele mit ihren bernsteinfarbenen Augen groß an. Doch Nele starrte schon wieder hinauf zu den Wolken, als könne sie Omas Luftschloss entdecken und Lotti konnte ungestört ihren Mittagschlaf fortsetzen.
„Manchmal fühlt man sich nicht wohl und möchte einfach an einem anderen Ort sein, an dem es einem besser geht.“
„Bist du krank“? „Aber nein, Nele. Das Haus und der Garten machen viel Arbeit und seit der Opa nicht mehr bei uns ist, muss ich alles allein machen. Das ist mir manchmal ein bisschen viel.“
„Dann lass doch eine Putzfrau und einen Gärtner kommen und dir helfen. Unsere Nachbarin hat auch Hilfe.“
„Eure Nachbarin ist ja auch viel älter als ich,“ lenkte Annemarie ein und hat auch viel mehr Geld, setzte sie innerlich dazu.
Was wusste ein Kind wie Nele schon davon, wie es ist, plötzlich allein und für alles selbst verantwortlich zu sein. Annemarie verfolgte die Wanderung der Wolken, die sich vom leichten Sommerwind westwärts treiben ließen. ‚Ihr habt es gut, euch lenkt der Wind und ihr lasst euch treiben, ohne euch groß anzustrengen. Und ihr seid nicht allein.’

Nach Klaus’ tödlichem Herzinfarkt stand sie plötzlich alleine da, wie vor den Kopf geschlagen, nicht begreifend, dass er nie wieder kommt. Sie liebte das von ihm gebaute Haus und ihren großen Garten, den sie gemeinsam angelegt hatten. Und überall fand uns sah sie ihn, wie er ihr aufmunternd zulächelte und ihr immer wieder neue Kraft gab. Aber wie lange würde das noch gut gehen? Wie lange würde sie das alles noch allein bewältigen können?
Sie hatte Nele gern bei sich und war um jede Stunde froh, die Nele aufgeregt im Garten hin- und herhüpfte, die zarten Gänseblümchen pflückte die Kirschbäume umarmen wollte, den Insekten nachjagte. Als Großstadtkind entbehrte die Kleine so vieles, was die Natur ihr hier bot.

Annemarie plagte sich mit den Gedanken, alles zu verkaufen und sich eine kleine Wohnung zu nehmen. Das würde aber auch bedeuten, Sabines Elternhaus und Neles Großelternhaus zu veräußern. Sabine und Wolfgang hätten gern noch ein zweites Kind und in Gedanken sah sie dieses Kind schon barfuß bei seinen ersten Gehversuchen auf dem grünen Rasen, den kleinen Pöter gut mit Windeln gepolstert, um die ersten kleinen Stürze sanft abzufangen.

Während sich solche Gedanken in ihrem Kopf jagten, saß sie still auf ihrer Terrasse und träumte von ihrem Luftschloss, das frei von solchen Belastungen war. Dort tanzte sie wie eine junge bewegliche Frau durch die von Licht durchfluteten Zimmer, frei von Schmerzen, Sorgen und Nöten. Dort holte sie sich die Kraft, die sie brauchte, um ihr Tagespensum zu bewältigen, ihre aufkeimenden Zweifel wegzuwischen.

„Komm Nele, lass uns ein paar Kirschen pflücken und Marmelade kochen.“ Annemarie war aus ihrem Luftschloss zurückgekehrt, voller Tatendrang und neuer Energie. So hatte Klaus sie geliebt und in diesem Wissen stellte sie sich jeder neuen Herausforderung.

© G. Bessen

 

Über Anna-Lena

Lehrerin im Un-Ruhestand, mit vielen Hobbys, die nichts mit dem Beruf zu tun haben. Ich lese viel, schreibe gern selber und fotografiere, was mir vor die Linse kommt.
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20 Antworten zu Luftschlossgedanken

  1. Karin schreibt:

    Der ewige Zwiespalt beim Altwerden: was gebe ich auf an Vertrautem, Gewohntem, was mich aus macht und wenn nein, wie bewältige ich das alles weiter – keine leichten Überlegungen.

    Gefällt 3 Personen

  2. Gisela Benseler schreibt:

    Liebe Anna-Lena, der Beitrag gefiel mir sooo gut, daß ich ihn bei mir gleich übernahm. Dabei habe ich ihn noch nicht einmal zuendegelesen. Das hole ich gleich nach. Aber das hätte von mir sein können und paßt wunderbar zu meinen vielen Wolkenbildern.

    Gefällt 2 Personen

  3. Gisela Benseler schreibt:

    Nun las ich die Geschichte zuende. Würde auch da zu mir passen, da wir gerade unser vereinsamtes Haus verkauften, in dem keiner mehr wohnte. Das Nachfolgerehepaar aber ist sehr glücklich, hier ganz neu anfangen zu dürfen. Allerdings war das bei uns auch dringend nötig wegen des Verfalls. In diesem Fall von Anneliese aber ist das ganz anders. Da gibt es noch ein junges Elternpaar und ein Enkelkind, vielleicht bald zwei. Und für eine Großmutter gibt es nichts Schöneres, als sie glücklich zu machen.

    Gefällt 2 Personen

    • Anna-Lena schreibt:

      Etwas lieb gewordenes aufzugeben ist sicherlich ein schwerer Schritt, der wohl durchdacht sein will. Aber in deinem Fall gibst du sicher alles in gute Hände.
      Auch das Loslassen will gelernt sein!

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  4. Annuschka schreibt:

    Wunderschöne Geschichte. Und sie trifft einen Nerv bei mir. In den letzten Wochen habe ich viel darüber nachgedacht, was sich bei uns so alles angehäuft hat, und was ich damit machen soll, wenn hier alles mal zu viel wird. Ich hoffe, das hat noch Zeit, aber wenn man aus irgendeinem Grund mal nicht so kann wie man will, dann kommen die Gedanken fast automatisch. Aber noch haben wir ja auch ein Kind im Haus, das erstmal noch flügge werden muss…
    Liebe Grüße, Anja

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    • Anna-Lena schreibt:

      ‚Simplify your life‘ ! Ich kann zwar fast alles noch, will ich das aber? Manchmal packt mich die Ausmistewut, dann wiederum kommen Tage, da kann ich mich nicht trennen. Somit hat jeder „Anfall“ sein Gutes und spornt zum Handeln an, oder auch mal zum Aufschieben … 🙂 .

      Auch zu dir liebe Grüße!

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  5. Werner Kastens schreibt:

    Wie schön, dass Gedanken uns Kraft geben können!

    Gefällt 2 Personen

  6. Tja,diese Gedanken um das Alleinesein. das Älterwerden und das Müdewerden…
    Liebe Anna-Lena, wundervoll beschrieben hast Du es, aber Deine Protagonistin hat noch viel Kraft. sie packt das. Das Enkelchen hilft dabei und das Luftschloss, das sie sich baut, wann immer wie es braucht. Es steht ja bereit *lächel*
    Noch bin ich nicht bereit, mich von geliebten Dingen zu trennen und ich glaube, ich werde es noch lange nicht tun…
    Ganz herzlich, Bruni

    Gefällt 2 Personen

  7. Klausbernd schreibt:

    Liebe Anna-Lena,
    da ist stets die Frage, was lasse ich los. Eigentlich haben wir ja alle viel zu viel, das uns einschränkt, aber Loslossen, das ist dennoch nicht so einfach. Bei uns ist es eine Bibliothek mit etwas über 12.000 Büchern, die wir im Laufe unseres Lebens sammelten. Aber die loslassen … no way! oder?
    Wir wünschen ein höchst angenehmes Wochenende
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

    Gefällt 1 Person

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