Warten

Der Tod ist spürbar in diesem Haus und doch hält er sich diskret versteckt.

Bei dem einen steht er hinter der Gardine und wartet auf den passenden Moment, den alten Menschen leise an die Hand zu nehmen und mitzunehmen. Bei einem anderen schleicht er sich mitten in der Nacht ans Bett und haucht ihm fast unmerklich den Rest der Lebensflamme aus.
Alltag in einem Pflegeheim.

Für jemanden, der diesen letzten Schritt hoffentlich noch lange nicht nötig hat, eine deprimierende Vorstellung.

Und diejenigen, deren Endstation hier ist?

Wie lebenswert ist ein Leben, das darin besteht, mehrfach am Tag gewindelt und gefüttert zu werden und den Rest des Tages im Halbschlaf zu verbringen, mit wund gelegenem Rücken und dem Warten auf den baldigen Tod?

Was denkt und fühlt ein Mensch, der im Rollstuhl nach dem Frühstück in den Aufenthaltsraum geschoben wird, um dann bis zum Mittagessen mit dem Rest seiner Kraft mit einem Esslöffel auf einen Tisch zu schlagen?

Oder der ältere Mann, der im Rollstuhl sitzt und seinen Fahrradhelm nicht abnimmt, obwohl er längst nicht mehr alleine raus fährt, geschweige noch Fahrrad fährt?

Jedes Leben ist bis zu seinem Ende wertvoll, aber nicht immer um jeden Preis lebenswert.

Und doch ist es für Menschen, die alt und krank sind und nicht mehr alleine zurechtkommen, oft die letzte Möglichkeit, ein Pflegeheim als letzten Ort auf dieser Erde aufzusuchen.

Warten fällt schwer

Warten fällt schwer. Warten kann sich als eine wahre Geduldsprobe erweisen und den, der wartet, an die Grenze der Belastbarkeit bringen.

Warten fällt schwer. Das erleben wir alle seit Beginn der Pandemie.

Besonders die Menschen, die in einem Pflegeheim leben, erfahren auf besonders schmerzliche Weise, was es bedeutet zu warten.

Das Warten auf lieben Besuch, der nicht kommen darf, das Warten auf einen Telefonanruf, das Warten auf neue Fotos der Liebsten, das Warten auf ein wenig Nähe und das Warten auf eine herzliche Umarmung – all das fehlt seit fast einem Jahr.

Das Warten auf die Möglichkeit, so schnell wie möglich geimpft zu werden, damit die Lebenszeit, die bleibt, hell, voll Wärme und liebevoll zu Ende gehen möge.

Alleine zu sterben, jemanden gehen zu lassen, ohne sich angemessen verabschieden zu können, ist grausam. Möge niemand mehr diesen Weg einsam und allein gehen müssen.

Das Leben ist ein Warten. Warten beinhaltet aber auch Hoffnung. Wer hofft, wartet nicht nur, sondern erwartet etwas und gibt seiner persönlichen Sehnsucht Raum.

© G. Bessen

Über Anna-Lena

Lehrerin im Un-Ruhestand, mit vielen Hobbys, die nichts mit dem Beruf zu tun haben. Ich lese viel, schreibe gern selber und fotografiere, was mir vor die Linse kommt.
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43 Antworten zu Warten

  1. Ulrike schreibt:

    Liebe Anna-Lena,
    das hast du wundervoll ausgedrückt.
    In dieser komischen jetzigen Zeit… Einsam im Heim bleiben und sterben „müssen“, weil gerade keiner rein darf.
    In meinem Bekanntenkreis hat jemand den Opa zu sich geholt. Er konnte das „warum“ nicht verstehen und hat nur noch geweint.
    Es bleibt zu wünschen, dass dieser Wahnsinn bald vorbei ist.
    Herzlichst
    Ulrike

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    • Anna-Lena schreibt:

      Ja, liebe Ulrike, es ist ja auch für uns Jüngere schon manchmal schwer zu verstehen. Wie soll ein alternder Mensch, der in einem Heim lebt, das alles begreifen?
      Es ist beängstigend und ich wünsche wie du, dass die Situation sich für alle bald positiv ändert.

      Ich grüße dich herzlich zurück!

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  2. kopfundgestalt schreibt:

    Gestern oder war es vorgestern hörte ich, daß 82 % der Toten aus Pflegeheimen stammen.
    Ungeheuerlich, wenn diese Zahl wirklich stimmt..

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    • Anna-Lena schreibt:

      Warum soll sie nicht stimmen? Nicht umsonst werden diese Menschen zuerst geimpft. Ich bin überzeugt, die älteren Mitbürger und die Kinder sind die großen Verlierer dieser Pandemie.
      In den Heimen in den Ortschaften um uns herum (lt unserer Tagespresse) gibt es kaum eines, das keine Infektionen bei Bewohnern und Mitarbeitern hat.

      Gefällt 5 Personen

  3. Liebe Anna-Lena,
    ein berührender Text von dir … der Ruhe und Besonnenheit ausstrahlt und mich trotz alldem aufwühlt…. mehr kann ich jetzt dazu nicht schreiben ….!
    Wahrscheinlich war und bin ich zu nah dran …. an alldem …
    Danke dir und Segen! Gute Nacht!

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    • Anna-Lena schreibt:

      Die Ruhe und Besonnenheit habe ich nicht wirklich, liebe Monika-Maria, denn um mich herum sind liebe Menschen, die geschützt werden müssen, Bekannte mit Coronaverläufen und diese ewige Vorsicht für- und miteinander trägt nicht gerade zur Entspannung bei. Die Mutter eines Bekannten ist vor 2 Tagen an Corona gestorben, nachdem sie sich im Krankenhaus infiziert hat.
      Leugner und „das ist ja alles weit weg“ dürfen mir gerade nicht zu nahe kommen …

      Hab einen guten Tag und sei herzlich gegrüßt!

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      • Ja, du Liebe ich weiß, ich verstehe dich sehr gut.
        Auch ich muss meinen Papa und stiefpapa vermeiden zu sehen. Ebenfalls den Rest der Familie. Ebenso meine Tochter. Leider sind auch von mir gut bekannte Menschen an dem „Blöden“ (so nennt meine neunjährige Nichte das Virus) verstorben.
        Mir setzt das auch zu, dss ich vor C. bis zu drei Mal wöchentlich im Seniorenwohnheim zu Besuch war. Guten Kontakt zu vielen Bewohnern hatte und viele von ihnen sind mittlerweile verstorben. Sie sind einfach verschwunden. Kein Abschied weder persönlich noch am offenen Grab.
        Anna-Lene ich erlaube mir dir für deine, eure Situation mein Mitgefühl entgegen zu bringen. „Das ist alles weit weg!“ Nein, es ist mitten unter uns und außerdem sollten auch die Menschen weit weg nicht krank werden oder sterben.
        Ich vermute bei manchen Menschen ist dieses leugenen eine Schutzbehauptung gegen das eigene Unwohlsein in der Situation. Ach, entschuldige, jetzt habe zu viel geschrieben …. ausufernd.
        Liebste mitfühlende Herzenssegensgrüße für dich und alle die du im Herzne hast.

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        • Anna-Lena schreibt:

          Liebe Monika-Maria,
          danke für deinen ausführlichen Kommentar und deine guten Wünsche. Auch ich möchte an deine Lieben denken, die du so schmerzlich vermisst.
          Mein Vater ist lange tot und meine Mutter kann noch alleine leben und die schützen wir, so gut es eben geht.
          Aber die Angst um die anderen und die Sorge treibt uns um, da hilft nur positives Denken, Gottvertrauen und Hoffnung!
          Irgendwann haben wir Corona überstanden.

          Pass gut auf dich auf und sei behütet!

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  4. finbarsgift schreibt:

    Beeindruckend geschrieben…
    Irgendwie warten wir ja alle.
    Der Tod ist stets unter uns…
    Mono no aware. In Corona-Jahren wird das noch deutlicher.
    Herzliche Morgengrüße vom Lu

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  5. sweetkoffie schreibt:

    Und wir jüngeren sollten uns darüber klar werden, dass wir auch nicht ewig leben. Der Tod ist näher als man denken möchte.
    Deshalb empfehle ich, den heutigen Tag zu einem schönen Tag zu machen. Trotz, oder mit den Umständen die die Zeit gerade mit sich bringen.
    Liebe Grüße und bleib gesund🍀

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  6. wholelottarosie schreibt:

    Leider gibt es auch junge kranke Menschen, die in Pflegeheim warten (müssen).
    Ich möchte hier jetzt einfach mal ein Zitat anführen, welches ich lange an meiner Pinwand hängen hatte:
    „Wer sich heute freuen kann, der soll nicht bis morgen warten.“
    Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827)
    Liebe Grüße von Rosie

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  7. xxxxxxxxxxxxxxxxxxx schreibt:

    Und dann darf ich in der Zeitung lesen, dass ein ehemals prominenter Politiker, ja 80 Jahre alt, sich in seiner „ehemaligen“ Gemeinde hat impfen lassen dürfen. Das war einen ganzen Artikel mit Bild wert. Wahrscheinlich zur Aufmunterung der schon durch diese Impfpolitik schon lange Wartenden! Na, danke!

    Natürlich haben sich da die Angehörigen von 85-90jährigen Angehörigen richtig geärgert, dass diese noch immer keinen Impftermin bekommen haben im zuständigen Impfzenter.

    Mir fällt da nur ein: Unterschied muss sein! Man sollte die älteren Mitmenschen durch solche Artikel nicht auch noch verhöhnen.

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    • Anna-Lena schreibt:

      Du weißt doch, liebe Brigitte, Vitamin B war schon immer eine Eintrittskarte 😉 .
      Vor ein paar Tagen sah ich einen Politiker im Interview im Fernsehen und dachte noch, dass er ja auch langsam eine Coronafrisur bekäme und einen Tag später hatte er einen Top-Haarschnitt.
      Ein Schelm, der Böses dabei denkt :mrgreen: .
      Liebe Grüße dir und bleibt gesund 🙂 .

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  8. blogspione schreibt:

    Die vorherstehenden Kommentare tun richtig gut. Danke für die vernünftigen und menschlichen Worte, die jeder jetzt so dringend braucht. Liebe Grüße euch allen.

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  9. Warten erfordert Geduld. Das Warten auf den Tod rückt näher, je älter wir werden.
    Wenn man weiß, nach dem Warten wird man mit etwas Schönem belohnt, nennen wir es Vorfreude, aber das Warten auf den Tod hat eine ganz andere Dimension und ich weiß nicht, ob ich über ihn viel nachdenken möchte.
    Er ist.mir nicht geheuer, dieser Kerl, der mir das Lebendigsein raubt, das ich so sehr geliebt habe.

    Es sind gute und nachdenkenswerte Worte, liebe anna-lena, und ich finde gut, was du hier ansprichst, auch wenn mir der Tod Ängste beschert.

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    • Anna-Lena schreibt:

      Auch mir macht er nicht gerade Freude, aber er ist unausweichlich und im Moment tagtäglich präsent und somit müssen wir uns auch mit ihm auseinandersetzen. Das kann man nicht zu jeder Zeit und wer den Gedanken lieber beiseite schiebt, tut auch gut daran.
      Erfreuen wir uns jeden Tag am Lebendigsein und genießen wir die kostbare Lebenszeit.

      Herzlich,
      Anna-Lena

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  10. Zu früh abgeschickt …

    Liebe grüsse zum Samstagmorgen von bruni an dich

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  11. Gisela Benseler schreibt:

    Das Photo ist eindrucksvoll. Es gibt auch ein würdiges Altern und Sterben. Ob das Warten auf die Impfung die Lösung ist?

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  12. Momo schreibt:

    Ich sehe das Leben anders. Warten ist das falsche. Wir sollten alles tun und Dinge machen. Nicht mehr warten, machen. Denn das Leben ist zu kurz um den partner zu warten. Und der Tod ist nicht das Ende. Denn wir kommen dann in eine höhere Schwingung ( Ebene. Dennoch haben wir Kontakt mit den Menschen auf der Erde. Meine Oma ist vor kurzem verstorben (letzte Woche) ich habe mich nicht verabschiedet, sondern iihre Seele gesagt „Wenn du gehen möchtest, darfst du gerne gehen“ Ich möchte nicht traumatisiert werden, deswegen habe ich mich gedanklich von ihr verabschiedet.
    Aber ja dieses Theater geht jeden auf den Sack und macht Depression! Ich finde es respektlos – das man sich von älteren Menschen nicht verabschieden kann bzw sich nicht treffen kann. Aber am ende wird die Wahrheit siegen und wir dürfe wieder frei sein.

    Alles Liebe

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    • Anna-Lena schreibt:

      Der Tod deiner Oma betrübt mich, aber ich kann auch gut verstehen, dass du dich nicht direkt verabschiedet hast, sondern ihre Seele gedanklich begleitest.
      Möge sie ihren Frieden finden, dort, wo sie jetzt ist.
      Vielleicht tröstet dich der Gedanke.

      Alles Liebe auch für dich und bleib zuversichtlich!

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      • Momo schreibt:

        Danke, aber der Tod betrübt mich gar nicht. Weil ich keine Angst vor dem Tod habe. Ich wusste eher, das sie stirbt. Also ich arbeite mit Erzengel Azrael zusammen und nein ich bin nicht traurig. Mir geht es sehr gut. Vielen Dank trotzdem für deine lieben Worte.
        Alles Liebe

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  13. Rhiannon schreibt:

    Es hat vieles mit der heutigen Angst vor dem Tod zu tun. Das Alter wird weggesperrt und doch hofft es auf die Jugend. Einst blieben die Alten bei der Familie, was heute aus verschiedenen Gründen oft nicht mehr möglich ist.
    Nur auf das Ende zu warten ist grausam und sehr einsam.

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    • Anna-Lena schreibt:

      Die Großfamilien in den südlichen Ländern haben uns vieles voraus. Leider ist der Tod bei uns immer noch ein Tabuthema, damit will man sich ja nicht gern auseinandersetzen, doch wenn man selbst älter wird und feststellt, dass aus dem eigenen Freundeskreis viele schon gehen mussten, kann man dieser Auseinandersetzung nicht mehr aus dem Weg gehen.

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      • Rhiannon schreibt:

        Da geb ich dir recht.
        Das Leben besteht doch aus so viel mehr … und irgendwann lässt sich die Beschäftigung damit einfach nicht mehr hindern.

        Schöner wäre es, wenn die Liebst im Kreise der Familie gehen könnten anstatt allein zu liegen – das macht einfach nur traurig.

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  14. FrauBausE schreibt:

    Liebe Anna-Lena, vielen Dank für diese schönen Zeilen. Mein lieber Opa, dem ich eine wundervolle Kindheit und so schöne Erinnerungen und Prägungen zu verdanken habe, ist damals, eine Woche bevor für die Pflegeheime ein Besuchsverbot verhängt wurde, verstorben. Es war ein wundervoller Mensch und er war vor allem immer für meine Schwestern und mich da. Und so konnten auch wir für ihn da sein und ihn begleiten, als er für immer seine Augen schloss. Die Vorstellung, dass wir in diesem Moment nicht hätten zu ihm gedurft, ist so schlimm und es hätte meine ganzen wundervollen Erinnerungen an meinen Opa für immer überschattet.
    Ich danke jedem liebevollen Pflegeheimmitarbeiter, der es während der Pandemiezeit geschafft hat Mensch zu bleiben und auch weiterhin so würdevoll wie möglich die Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet.

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    • Anna-Lena schreibt:

      Herzlichen Dank für diesen so berührenden Kommentar. Deinen Dank für die liebevolle Behandlung und Pflege möchte ich am liebsten ganz dick und groß schreiben!
      Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht.

      Liebe Grüße,
      Anna-Lena

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