WortArt

WortArt ist eine Gruppe von fünf Hobbyautoren, die sich einmal im Monat zu einer Lesung in einem Cafe in Oranienburg trifft. Manchmal gibt es Themenabende, wie auch am vergangenen Samstag. Zusammen mit verschiedenen Musikern und einem Tanzpaar, die das Thema des Abends auch künstlerisch umsetzten, umrahmte unsere Gruppe die Darbietungen mit Lesungen.

Das Thema des Abends lautete: TANGO

Dazu stelle ich meine geschriebene und gelesene Geschichte ein, zu der als Hintergrundmusik Ravels Bolero lief …

Tango Mortale

Der erste Arbeitstag in der fremden Stadt lag hinter ihr, gespickt mit neuen und vielversprechenden Anregungen. Ganz in Gedanken versunken, schloss sie die Wohnungstür auf. Sie erstarrte. Aus ihrer Wohnung erklang Maurice Ravels „Bolero“.

Ihr Herz schien für einen Moment auszusetzen, um dann mit der dreifachen Geschwindigkeit erneut loszuschlagen. Schweißperlen legten sich wie ein feiner Film über ihr Gesicht, sammelten sich und rannen in winzigen Rinnsalen ihren schlanken Hals hinab. Für einen kurzen Moment blickte sie hinter sich in das noch erleuchtete Treppenhaus, dann nach vorn in den dunklen langen Flur. Noch war es Zeit, die Tür leise wieder zu schließen und die Treppe hinab auf die Straße zu laufen. Und dann? Auf der Straße konnte sie nicht übernachten.

Wo sollte sie hin? Sie war hier fremd, neu hergezogen, kannte noch niemanden und war noch weit entfernt davon, angekommen zu sein. Erst gestern war sie, nach einigen Tagen im Hotel, in die neue Wohnung eingezogen. Sie hatte nach langen inneren Kämpfen den Mut gefunden, ihr altes Leben in der Stadt am anderen Ende von Deutschland aufzugeben, alle Brücken abzubrechen und ganz neu anzufangen. Und nun kam sie nach einem langen Arbeitstag, an dessen Ende sie noch diverse Amtsstuben besucht hatte, in ihre eigenen vier Wände und musste feststellen, dass sie offenbar nicht alleine war.

Die Klänge des „Bolero“ irritierten sie, ja, sie machten ihr Angst und gleichzeitig durchströmte sie ein warmer Fluss voller Leidenschaft. Vor ihrem inneren Auge sah sie sofort das fein geschnittene Gesicht von Miguel, seine dunklen Augen, seine vollen Lippen und das schwarze lange Haar, das ihm in Wellen auf die Schultern fiel. Sofort spürte sie seine fordernden Hände, die beim feurigen und leidenschaftlichen Tangotanzen nur mit Mühe an der Stelle blieben, die der Tanz einforderte. Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Wer wagte es, ungefragt in ihr kleines Reich einzudringen, ihre ureigene Intimsphäre zu stören und ihre kleine Welt sofort wieder auf den Kopf zu stellen?

So leise sie konnte, schloss sie die Eingangstür, legte ihre Tasche neben sich auf einen Umzugskarton, fingerte das Pfefferspray aus dem vorderen Taschenfach und zog die Schuhe und Socken aus. Barfuß pirschte sie sich durch den Flur bis zum Rahmen der Badezimmertür und lauschte. Aus dem Wohnzimmer erklang nichts als der bedrohliche und doch so liebenswerte  „Bolero“, kein weiterer Laut war zu hören. Schräg gegenüber vom  Badezimmer lag die Küche. Die Küchentür stand offen. Wenn sie es schaffte, in die Küche zu gelangen, konnte sie einen direkten Blick ins Wohnzimmer werfen.

Bevor sie den entscheidenden Schritt über den Flur zur Küche wagte, wischte sie sich den Schweiß mit dem Ärmel ihres Sweatshirts  aus dem Gesicht. Leise wie eine Katze setzte sie zum Sprung in die Küche an.

Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Hinter zwei übereinandergestapelten Kartons versteckte sie sich. Fieberhaft überlegte sie, wie die Umzugsleute die Möbel im Wohnzimmer hingestellt hatten und wo die Kartons für dieses Zimmer aufgestapelt waren. Ihr Blick fiel auf die Balkontür und das große Wohnzimmerfenster. Aber es fiel kaum Licht ins Wohnzimmer. Der Himmel war voller Wolken und die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren, bis auf zwei Ausnahmen, dunkel.

Vor dem Fenster erkannte sie die Silhouette der Ledercouch, rechts davon stand ein einzelner Sessel. Dort konnte sie niemanden erkennen. Der Fremde musste sich auf der Seite aufhalten, zu der ihr die Sicht verwehrt war. Von dort kam auch die Musik. Sie hörte für einen kurzen Moment auf, um dann erbarmungslos von Neuem zu beginnen. Der Fremde. War es wirklich ein Fremder? Ein grauenhafter Gedanke in ihr begann, Gestalt anzunehmen.
Sie wusste zwar, dass ihre Musikanlage in einem Fach des wuchtigen Wohnzimmerschrankes stand, aber ebenso genau war sie sich bewusst, dass sie die Anlage noch nicht angeschlossen hatte.

Sie war am gestrigen Abend so erschöpft gewesen, dass sie lediglich ihr Bett bezogen und einen Wecker auf den Nachttisch gestellt hatte. Waschzeug, Kosmetikartikel und frische Kleidung hatte sie extra in einer Reisetasche für den ersten Tag bereitgelegt. Alles andere konnte bis zum Wochenende warten.

Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich wie ein Tiger im Käfig, unfähig einen Schritt vor oder zurückzumachen. Das Pfefferspray in ihrer Hand kam ihr vor wie ein Witzartikel aus einem Kaugummiautomaten. Was konnte sie damit schon ausrichten?

Ein Profi würde darüber nur mitleidig lächeln. Die Situation war nicht einschätzbar. Ein Einbrecher konnte bei ihr nichts holen. Dazu hätte er schon ihre Umzugskartons auspacken müssen. Und alles Wichtige hatte sie bei sich in ihrer Handtasche.

Steckte ihr Mann dahinter? Wollte er ihr einen Denkzettel verpassen, nachdem sie den Umzug heimlich organisiert, sein Konto weitgehend geplündert und seine dreitägige Geschäftsreise zum Auszug genutzt hatte? So schnell konnte er sie nicht ausfindig gemacht haben. Er würde erst einmal in einen Schockzustand verfallen, wenn er erkannte, dass sie ihn in ihrem gemeinsamen Haus nur mit dem Nötigsten zurückgelassen hatte.

Der Unbekannte musste im Wohnzimmer sein und sie würde warten. Ihm direkt in die Arme zu laufen, wäre zu gefährlich, darauf schien er zu warten. Sie blieb, wo sie war, bereit alles zu tun, um ihr Revier bis aufs Messer zu verteidigen. Messer? Fieberhaft überlegte sie, wo sie ihre großen Küchenmesser hineingepackt hatte, verwarf aber den Gedanken sogleich wieder.

Der Bolero war wieder einmal zu Ende und – das durfte doch nicht wahr sein – er fing sogleich wieder von vorne an. Außer der Musik war nichts aus dem Wohnzimmer zu hören.

Und wieder wanderten ihre Gedanken zurück zu Miguel, dem Traum von Mann, den sie während ihrer kurzen, aber leidenschaftlichen Dienstreise nach Rio de Janeiro kennen- und liebengelernt hatte. Sie dachte an die Abende im Hotel an der Bar, an die Stunden, in denen sie nichts mehr ersehnte, als später beim Tango dahingleitend in seinen Armen zu liegen, sich dem Wechsel der schleichenden und zackigen Schritte zu ergeben mit einer Mischung aus Lust und Schmerz, schreitend wie ein liebendes Storchenpaar den Saal zu beherrschen, um dann mit einer ruckartigen Drehung des Kopfes die Situation neu zu definieren. In den kurzen und intensiven Nächten suchten sich die angesammelten Gefühle einen Weg, auszubrechen, und in einem Crescendo von Leidenschaft die Welt vergessen zu lassen.

Doch Dienstreisen haben ein Ende, Affairen auch und trotz der verzehrenden Sehnsucht nach dem jeweils anderen kehrten Miguel zu seiner Frau Satine und Franka zu ihrem Mann Robert zurück, in ein Leben, in dem nun nichts mehr so wie vorher war.

Die Zeit kam ihr vor wie die Ewigkeit. Es gab nichts an ihrem Körper, was nicht schmerzte. Sie war diese ungewohnte Stellung in der Hocke nicht gewöhnt. Die Oberschenkel waren eingeschlafen und der Druck auf die Blase wurde unerträglich. Tränen der Verzweiflung traten ihr in die Augen. Wie konnte sie nur so töricht sein, unter diesen Umständen in die Wohnung zu gehen, anstatt sofort zur nächsten Polizeiwache zu laufen? Nun war sie gefangen.

Hinter sich hörte sie ein Geräusch, ein kurzes, kaum wahrnehmbares Klirren. Das Blut gefror ihr in den Adern, als sie von hinten etwas Metallenes um ihren Hals spürte. Je mehr ihr Hals zugedrückt wurde, desto deutlicher quollen ihr die Augen aus den Höhlen. Sie zappelte mit Armen und Beinen, versuchte mit den Händen nach der Kette um ihren Hals zu greifen. Sie versuchte zu atmen, aber ihre Luftröhre war zugeschnürt. Ein Schlag auf den Hinterkopf raubte ihr das letzte bisschen Bewusstsein. Ein gleißendes Licht blitzte für einen kurzen Moment auf, dann versank alles um sie herum in ein tiefes Schwarz.

Bevor sich der Mantel der Bewusstlosigkeit über sie legte, erkannte sie den Geruch als den ihres Mannes, der hinter die kurze und heftige Liebesaffaire seiner Frau gekommen war und ihr fortan das Leben zur Hölle gemacht hatte. Ihr Auszug und ihr Versuch, der Vergangenheit entfliehen zu wollen, waren sinnlos. Er hatte seine Leute, seine Beziehungen und seine Verbindungen, und wie er ihr immer prophezeit hatte, würde er sie in jedem noch so kleinen Mauseloch finden.

Sie griff sich an den Hals, sog die Luft scharf ein und riss die Augen auf. Ihr Körper war  in Schweiß getränkt,  ihr Mund war pelzig und völlig ausgetrocknet. Sie fingerte in der Dunkelheit auf dem Nachttisch nach der Flasche Mineralwasser.

Würden diese Albträume denn nie aufhören?

© G. Bessen

Über Anna-Lena

Lehrerin im Un-Ruhestand, mit vielen Hobbys, die nichts mit dem Beruf zu tun haben. Ich lese viel, schreibe gern selber und fotografiere, was mir vor die Linse kommt.
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17 Antworten zu WortArt

  1. karlswortbilder schreibt:

    wie schön, wieder eine echte Gaby Bessen Geschichte 😉
    lg
    karl

    Gefällt 1 Person

  2. alltagschrott.ch schreibt:

    Herrlich. Und ich stelle mir die Geschichte mit Musik untermalt vor!
    Manchmal wacht man gerne auf 😊
    Herzliche Grüße, Priska

    Gefällt 2 Personen

  3. www.wortbehagen.de schreibt:

    Sie ist einfach gut, diese Geschichte, liebe Anna-Lena!!!

    Liebe Grüße von mir zu Dir

    Gefällt 1 Person

  4. freiedenkerin schreibt:

    Ja, ja, so ist das mit dem schlechten Gewissen… 😉
    Gut geschrieben!

    Gefällt 1 Person

  5. lifetellsstories schreibt:

    Deine Geschichte ist total spannend und ich habe sie mit Herzklopfen gelesen. Zum Glück war es nur ein Traum, aber Albträume beschäftigen einen leider auch noch am Tag. Sie wollen einfach nicht aus dem Kopf verschwinden und man wird sie nur schwerlich wieder los.
    Hab einen schönen Freitagabend.
    Astrid

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    • Anna-Lena schreibt:

      Das freut mich, liebe Astrid.
      Ja, auch ich kenne Albträume, hin und wieder mal. Da arbeitet das Unterbewusstsein offenbar auf Hochtouren und alle Körperfunktionen gleich mit.
      Wie gut, wenn es sich letztendlich als Traum entpuppt.

      Hab ein schönes Wochenende, der Freitag ist ja nun vorbei 😉 .
      Liebe Grüße
      Anna-Lena

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  6. kopfundgestalt schreibt:

    Traumhaft gut geschrieben!

    Gefällt 1 Person

  7. maribey schreibt:

    Wie spannend geschrieben. Das klingt toll mit der Lesung, auch in dieser Kombination mit Musik und Tanz, toll!

    Gefällt 1 Person

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