C – Charakter


Nichts ist schwieriger und erfordert mehr Charakter,
als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden
und laut zu sagen: Nein!

(Kurt Tucholsky)

Die Jugend von heute

Sie zeigte dem Busfahrer ihre Seniorenkarte, steckte sie in ihre Manteltasche und bahnte sich mit ihrem Stock mühsam  einen Weg durch den vollbesetzten Bus. Am frühen Nachmittag war es schwer, einen Sitzplatz zu finden. Sie blieb mitten im Gang stehen und schaute herausfordernd zu einem etwa zwölfjährigen Schüler hinab, der seinen Rucksack auf dem Schoß hatte und mit fliegenden Fingern eine SMS in sein  Handy schrieb.

„He, Junge, würdest du mal aufstehen?  Ich würde mich gern dort hinsetzen, weil ich nicht lange stehen kann.“ Der Junge war so in seine Tätigkeit vertieft, dass er nicht reagierte. Neben ihm saß ein Mann mittleren Alters, der zuerst die alte Dame, dann den Jungen ansah. Mit seinem rechten Ellenbogen stieß er den Jungen an. „Hast du nicht gehört?“

Der Junge reagierte wieder nicht. Umständlich stand der Mann auf, bot der alten Dame seinen Platz an und trat mit der Bemerkung „So ist sie, die Jugend von heute, keine Erziehung, keinen Respekt“, in den schmalen Gang hinaus.

Die alte Dame setzte sich, warf einen Blick auf den Jungen und schüttelte den Kopf.

„So etwas habe ich noch nie erlebt“, murmelte sie aufgeregt vor sich hin.

Der Junge steckte sein Handy in die Brusttasche seiner Jeansjacke, drehte den Kopf zur Seite und blickte die alte Dame aus freundlichen blauen Augen an.

„Ich bin so erzogen worden, dass ich BITTE sage, wenn ich etwas möchte. War das in Ihrer Jugend nicht so? Mit diesem kleinen Zauberwörtchen hätte ich Ihnen den Platz sofort überlassen.“

© G. Bessen

 

Über Anna-Lena

Lehrerin im Un-Ruhestand, mit vielen Hobbys, die nichts mit dem Beruf zu tun haben. Ich lese viel, schreibe gern selber und fotografiere, was mir vor die Linse kommt.
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31 Antworten zu C – Charakter

  1. versspielerin schreibt:

    wunderbare wendung zum schluss – sehr gelungen!

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  2. petra ulbrich schreibt:

    Touché – im Übrigen haben auch junge Menschen manchmal einen Sitzplatz bitter nötig, weil ihr Tag oftmals doch sehr anstrengend ist. Da schwingt jetzt kein bisschen Ironie mit!

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    • Anna-Lena schreibt:

      Du hast völlig recht, allein der schwere Schulranzen, stundenlanges Sitzen in der Schule, oftmals lange und umständliche Schulwege … Manche Kinder haben einen ebenso anstrengenden Tag wie Erwachsene und sie haben für einen Sitzplatz ebenso bezahlt.

      Situationsabhängig kann auch ein Kind mal aufstehen, aber auch jüngere Erwachsene können den Älteren mal Platz machen.

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  3. Arno von Rosen schreibt:

    Der Knirps hat recht. Respekt funktioniert nur in beide Richtungen und ist keine Einbahnstraße 😉

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  4. Susanne und Peter schreibt:

    Das Zauberwort mit zwei T: „Aber flott.“

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  5. E schreibt:

    Respekt für den Jungen.

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  6. Brigitte schreibt:

    Es liegt schon auch an den Älteren selber. Wie schon erwähnt – gegenseitiger Respekt – das ist was Feines. Und sollte auch gebraucht werden. Dann würden jung und alt sehr gut miteinander auskommen.

    Schönen Sonntag, Brigitte

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  7. kormoranflug schreibt:

    Wir standen früher ohne Anfrage sofort aus Höflichkeit auf. Kinder waren zu dieser Zeit noch keine Götter sondern kamen zufällig in die Familie. Dafür müssten sie meistens mitarbeiten um die Familie zu ernähren.

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    • Anna-Lena schreibt:

      Wir wurden so erzogen, höflich zu sein und das Alter zu respektieren.

      Kinder in aller Welt müssen heute noch unter den schlimmsten Bedingungen für die Grundbedürfnisse der Familie arbeiten. Damit verglichen geht es den meisten Kindern bei uns bestens.

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  8. Sehr gut, liebe Anna-Lena! Respekt auf beiden Seiten muss sein, damit ein Miteinander gut funktionieren kann!
    Herzliche Grüße und falls ich dir noch kein gutes neues Jahr gewünscht habe, hole ich das hiermit nach
    Regina ❤

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  9. freiedenkerin schreibt:

    Das beobachte ich auch des Öfteren, dass es ältere Menschen den jungen an jeglicher Höflichkeit fehlen lassen. Da ist mir schon einige Male das Sprüchlein „Wie heissen die Magischen Wörter?“ entfleucht. Und obwohl ich mit gar süßer Stimme gefragt habe, hat man mich dann stets mit recht unfreundlichen Blicken bedacht. 😀

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    • Anna-Lena schreibt:

      Solche Erfahrungen habe ich auch gemacht, aber egal, wir alle sind Teil der Gesellschaft und können und gegenseitig ruhig ein wenig auf die Füße treten.

      Liebe Sonntagsgrüße zu dir,
      Anna-Lena

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  10. www.wortbehagen.de schreibt:

    Tja, das hatte sie wohl vergessen…dieses wirklich nicht unwichtige kleine Wort

    Liebe Grüße von Bruni an Dich

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  11. Helga/Rheinland schreibt:

    Generell ist zu beobachten, dass die Respektlosigkeit erschreckend zugenommen hat … generationsübergreifend!
    Meine Grüße an Dich, Anna Lena!
    Helga

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    • Anna-Lena schreibt:

      Du hast recht, liebe Helga, da kann man aber mit eigenem Beispiel gegenhalten, auch wenn es nur eine kleine Möglichkeit ist 😉 .

      Liebe Grüße auch dir,
      Anna-Lena

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  12. ernstblumenstein schreibt:

    Eine sehr gute Pointe, ist nicht immer einfach, an das Zauberwort zu denken… 😉

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  13. alltagschrott.ch schreibt:

    Was für eine erfrischende Wendung. Gegenseitiger Respekt…
    Herzliche Grüße. Priska

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  14. lifetellsstories schreibt:

    Sicherlich, er hätte eigentlich unaufgefordert aufstehen sollen, aber eine freundlichen Bitte wäre eine Art Brückenschlag gewesen.
    LG
    Astrid

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  15. Träumerle Kerstin schreibt:

    Jetzt habe ich gelacht Anna-Lena. War gespannt, was für eine Pointe da wohl kommen mag.
    Unsere Jungs sind auch so erzogen worden, immer „Bitte“ und „Danke“ zu sagen.
    Liebe Grüße von Kerstin.

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