Mutter Erde

Graue feuchte Nebelschwaden hatten Mutter Erde zärtlich wach geküsst. Am Horizont lächelte ihr die langsam aufgehende Sonne freundlich zu und vertrieb den letzten Rest Dunkelheit. „Guten Morgen, Mutter Erde. Hast du gut geschlafen?“ „Guten Morgen, Sonne. Danke der Nachfrage. Ich habe gut geschlafen, aber ich fühle mich so entkräftet.“

„Wundert dich das um diese Jahreszeit? Ruh’ dich aus, ich muss weiter.“ Damit verabschiedete sich die Sonne und  machte sich auf, ihre tägliche Bahn zu drehen.

Verschlafen blinzelte Mutter Erde  aus ihren klugen Äuglein und seufzte zufrieden. Ein kräftiger Novemberherbststurm hatte die feuchte bunte Blätterschar über Nacht am Boden deutlich angehäuft. Manche Bäume hatten ihr farbig leuchtendes Sommerkleid  großflächig abgeworfen und  sahen traurig auf  ihre halbnackten Zweige.

Um Mutter Erde  herum herrschte bereits reges Treiben. Wenn es feucht und dunkel war, verrichteten  Mutter Erdes Kinder ihre Arbeit am liebsten. Springschwänze und Milben waren emsig damit beschäftigt, die Blatthaut des Herbstlaubes zu öffnen, um  Pilzen und Bakterien einen Nährboden zu  bereiten. Zweiflügellarven knabberten kleine Fenster in die Blätter, die von Schnecken, Asseln und Tausendfüßlern weiter zerfressen wurden, bis nur noch ein Blattskelett übrig blieb.

Der nächtliche Herbststurm hatte den Regen im Gepäck, der die Erde gut durchfeuchtet hatte. Scharen von Regenwürmern gruben wetteifernd Gänge und Röhren durch die Erde und bewegten sich in ihnen, kriechend wie kleine Schlangenkinder, auf und ab. So mancher Regenwurm leistete  sich zwischendurch eine kleine Pause, verschwand kurz an der Erdoberfläche, um nach einer flotten Partnerin Ausschau zu halten. So manche Assel, die an diesem feuchten frühen Morgen an der Erdoberfläche beschäftigt war, versteckte sich unter einem Blätterhaufen und sah einem Regenwurmpärchen lustvoll bei der Paarung zu.

Mutter Erde war zufrieden. Alles lief wie am Schnürchen. Sie lehnte sich zurück und ruhte sich aus. So lange Väterchen Frost nicht einzog, brauchte sie sich keine Gedanken über die Motivation ihrer Kinder machen, deren herbst- und winterliche Arbeit es war, das herab fallende Herbstlaub in neue humusreiche Erde umzuwandeln.

All ihre Kraft hatte Mutter Erde verbraucht. Den Jahreszeiten und den Einflüssen von außen schutzlos ausgesetzt, schwanden ihre Kräfte zusehends. Aber nun konnte sie sich ausruhen und eine lange Winterpause genießen. Sie konnte sich auf ihre Kinder verlassen, die alles dafür taten, damit sie gestärkt und wie neu geboren am Ende eines langen Winters aufleben konnte.

mutter-erde

©  G. Bessen

Über Anna-Lena

Lehrerin im Un-Ruhestand, mit vielen Hobbys, die nichts mit dem Beruf zu tun haben. Ich lese viel, schreibe gern selber und fotografiere, was mir vor die Linse kommt.
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29 Antworten zu Mutter Erde

  1. Arno von Rosen schreibt:

    Von solchen Biologiestunden habe ich in der Schule nur geträumt liebe Anna-Lena 🙂

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  2. finbarsgift schreibt:

    Ganz zauberhaft, liebe Anna-Lena, herrlicher Herbstlesestoff! 🙂
    Liebe Morgengrüße vom Lu

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  3. Sehr schön geschrieben. Da kann man sich richtig hineinversetzten, wie es in der Mutter Erde arbeitet! 🙂 Lieben Dank für diese schöne Guten-Morgen-Geschichte!

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  4. petra ulbrich schreibt:

    Schön. Mutter Erde ist doch die beste…

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  5. freiedenkerin schreibt:

    Aber auch, wenn sie sich ausruht, tief verborgen bereitet sie schon das nächste Erwachen, Keimen und Aufblühen vor. 😉
    Danke für die entzückende Geschichte, liebe Anna-Lena. 🙂

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  6. Brigitte schreibt:

    Auch ich fand das wunderschön geschrieben – auch wenn ich es schon kannte. Und mit den Unsäglichen hast du mehr als recht. Die Leute könnten sich prompt das Fitnessstudio sparen, wenn sie den Laubrechen zur Hand nehmen würden. Das hat auch was Meditatives.

    Nur, dass es unter den Asseln Spanner gibt – das hat mich doch sehr erschüttert!

    Liebe Grüße, Brigitte

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    • Anna-Lena schreibt:

      Erschüttern wollte ich dich nicht, liebe Brigitte 😆 .
      Heute hatten wir mal einen wahren Sonnentag und ich sah viele, die ihr Laub (wir hatten nachts Minusgrade) sehr meditativ zusammen harkten.

      Liebe Abendgrüße
      Anna-Lena

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  7. Träumerle Kerstin schreibt:

    Eine kleine herzliche Geschichte. Möge die Erde sich erholen, ja wir gönnen es ihr. Sie gibt uns so viel!
    Liebe Grüße von Kerstin.

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  8. ernstblumenstein schreibt:

    Eine feine Geschichte, die nur jemand so gut und schön schreiben kann, der die Natur achtet, dem Blätterfall mit dem Laubrechen begegnet und ihn womöglich noch kompostiert.
    Liebe Grüsse ins Wochenende. Ernst

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  9. Emily schreibt:

    Na guuut 😉

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  10. bruni8wortbehagen schreibt:

    Ich erinnerte mich nicht mehr an diese schöne Mutter-Erde-Geschichte, liebe Anna-Lena, obwohl sie doch wirklich sooo schön ist. Ich denke an die Regenwürmer und die Assel…
    Das Ausruhen kommt uns sehr zugute, denn wir machen es ihr nach und stellen einige Aktivitäten ein, damit wir mit dem Frühling wohlig ausgeruht neu beginnen können. 🙂

    Lesezeit ist eine feine Sache und wir genießen sie aus vollen Zügen.

    Lächelnde liebe Grüße von Bruni an Dich ♥

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    • Anna-Lena schreibt:

      Die Geschichte ist ja schon ein paar Jahre alt. Ich müsste selbst schauen, in welchem meiner Bücher sie steht. Doch sie passt gerade wieder so gut.
      Als ich den Garten winterfest gemacht habe, traf ich so einige fleißige Erdbewohner… 😆 .
      Liebe Grüße auch an dich 🙂 .

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  11. suebilderblog schreibt:

    Sehr schön geschrieben und passend zum November.
    LG Susanne

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