Müde kam der Tag aus der Nacht gehumpelt. Er hatte heute so gar keine Lust, sich zu entfalten. Jeder stellte enorme Ansprüche an ihn, die zu erfüllen er derzeit kaum in der Lage war. Er sollte strahlen, nur positive Gedanken versprühen, die Menschen bei guter Laune halten und möglichst nicht vergehen. Aber wie sollte er ihnen klarmachen, dass er mit der Jahreszeit ein Problem hatte, selber unter einer rezidivierenden Herbstdepression litt und kaum Antrieb hatte.
„Ich kann dir nicht helfen, so gern ich es auch möchte“, tröstete ihn die Nacht, die es kaum mit ansehen konnte, wie sich der Tag Morgen für Morgen quälte. „Ich kann doch nicht einfach bleiben und dich unbegrenzt schlafen lassen. Jeden Morgen hänge ich ein paar weitere Sekunden an und auch am Abend löse ich dich ab, so schnell ich kann. Aber mehr ist nicht drin!“
„Ja, ich weiß, du gibst dein Bestes, liebe Nacht und doch weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Schwester Sonne lässt uns einfach sitzen, wer weiß, auf welcher Umlaufbahn sie gerade tänzelt. Bruder Regen hat sich hier so richtig bequem gemacht und macht keinerlei Anstalten, seine Wolken zur Räson zu rufen. Die bunten Blätter, die die Kinder so gerne für ihre Herbstbasteielen sammeln, liegen träge und schwer am Boden und machen keinerlei Anstalten, sich überhaupt bewegen zu lassen. Geschweige denn, sich zum Basteln anzubieten. Die Tiere bekommen lange Zähne, wenn sie Eicheln und Kastanien so patschnass und feucht in ihre Winterquartiere schleppen sollen. Die Igel hat die erste Grippewelle befallen. Und der Wind, der in der Lage wäre, die schweren Wolken wegzupusten, scheint in Urlaub zu sein. Alles, was die Menschen erwarten, bleibt an mir hängen. Es ist Oktober und alles soll hell, freundlich und leuchtend sein.“
„Ich verstehe dich gut, lieber Tag, doch was nicht geht, geht eben nicht. Glaubst du, die Menschen können jeden Tag zu hundert Prozent leisten, was andere von ihnen verlangen? Auch sie haben gute und schlechte Tage. Tage, an denen sie vor Kraft Bäume ausreißen könnten und wiederum Tage, an denen sie sich einfach unter der Bettdecke verkriechen und nichts sehen und hören wollen. Nimm es nicht so schwer, lieber Tag. Leiste das, was du leisten kannst und denke auch an dich. Wenn du schlapp machst, was ist dann? Für zwei kann ich nicht da sein. Wir beide sind ein gut eingespieltes Team und das bleiben wir auch, so lange wir offen und ehrlich miteinander umgehen und aufeinander aufpassen. Ich lege mich jetzt hin, damit ich für später fit bin. Du musst jetzt los, lieber Tag.“
Der Tag schaute nicht mehr so verdrießlich. Das Gespräch mit der Nacht hatte ihm Kraft gegeben und er nahm seinen Platz ein.
Nichts auf dieser Welt war noch verlässlich. Tag und Nacht jedoch sollten es bleiben.
© Text und Foto: G. Bessen 10/2016
Was für eine wundervolle Geschichte. Die hat mich sehr berührt und ich muss sie bald meinem Goldstück vorlesen 🙂 Dankeschön liebe Anna-Lena!
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Das freut mich, lieber Arno. Das Schreiben von Geschichten habe ich lange vernachlässigt, aber nun ist mein Kopf frei genug, mich wieder daran zu wagen.
Liebe Grüße an dein Goldstück.
Herzlich,
Anna-Lena
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Was für eine feine Geschichte, liebe Anna-Lena…
Und ein Foto wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich oder Böcklin…
Liebe Oktobergrüße vom Lu
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Danke, lieber Lu. Der Baum steht etwa einen Kilometer von uns entfernt. Immer wenn ich daran vorbeifahre, grüße ich ihn. Zu jeder Jahreszeit glänzt er wie ein Juwel.
Und gestern hat er mich so zart angelächelt, dass ich ihn mit euch teilen wollte.
Liebe Grüße aus dem Morgengrau,
Anna-Lena
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Ja, schreib wieder Geschichten, Anna-Lena, da steckt viel Herz drin!
Hoffentlich bleiben uns Tag und Nacht erhalten. Kein Mensch weiß, was noch alles einfällt.
Der Herbst ist jedoch meine Jahreszeit, da werde ich munter und laufe viele Kilometer. Keine Hitze! Da kann es ruhig schaurig neblig sein.
Liebe herbstliche Grüße, Brigitte
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Mal schaurig und neblig lasse ich mir auch gefallen, aber wir haben so viel Regen in der letzten Zeit, das kann schon aufs Gemüt gehen.
Ja, Geschichten werden kommen, aber in der „Visitenkarte“. Hier ist der Platz schon arg knapp…
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Der Rat eines guten Freundes ist Gold wert! Manchmal brauchen wir eben alle eine starke Schulter, an der wir uns anlehnen können.
Wunderschön geschrieben, liebe Anna-Lena!
Herzliche Grüße, Emily
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Das freut mich, du Liebe.
Herzliche Grüße zurück,
Anna-Lena
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Eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch, liebe Anna.Lena. Sie ist soooo schön, da möchte ich doch zu gerne auch der Nacht beistehen mit ihrem Trost, den sie für den Tag bereithielt.
Was würden wir tun, würde der Tag schon zum Morgen schlapp machen?
Wie sollten wir da zu einem gescheinten täglichen Rhythmus finden?
Da umarme ich jetzt mal die Nacht dafür, daß sie uns beisteht und dafür sorgt, daß er nicht noch mehr verschläft 🙂
Liebste Grüße an Dich von mir, noch aus dem Tag, der schon wieder so sehr am Gähnen ist
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Mittlerweile gähnt nicht nur der Tag, liebe Bruni, ich fühle mich auch wie kurz vor dem Winterschlaf…
Hab eine feine Nacht 🙂 .
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Na, dann können wir uns ja die Hand geben, liebe Anna-Lena 🙂
Ich dachte, es läge an mir, nicht am Wetter…
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Nein, keine Sorge 😉 .
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Eine gute Nacht wünsch ich Dir auch ♥
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Die wünsche ich dir für die kommende Nacht, liebe Bruni 🙂 .
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Wunderbar geschrieben. Eine Geschichte, die sich sehr gut lesen lässt und so passend zum derzeitigem Wetter.
LG Susanne
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Dieses Wetter haben wir hier ja schon einige Wochen… 😦 .
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