Unterwegs

Klirrende Kälte und Sonnenschein, eine gesunde Mischung und ein Antrieb, raus zu gehen.
Eine Gruppe Grundschulkinder, jedes mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, wartet lachend und singend in Begleitung zweier Lehrer auf die S-Bahn. Lachende Kinder lenken ab und zeigen, dass sie in dieser Welt noch Optimismus haben.

In der S-Bahn, die gerade die Berliner Stadtgrenze passiert, ist es ruhig. Das einzige Geräusch, monoton und gleichförmig, verursachen die Räder auf den Schienen.
Um mich herum Menschen mit Zeitungen und Büchern, still beschäftigt. Manch einer schreibt mit flinken Fingern eine Nachricht auf dem Smartphone.
Der Mann auf der anderen Seite legt sein Buch gelegentlich zur Seite, genau wie ich. Sein Blick geht immer mal wieder ‚nach draußen’, als suche er wie ich die ersten Vorboten des Frühlings.
Dächer fliegen vorbei, Schornsteine rauchen, innen ist es heimelig und warm.
Die kahlen Bäume, die parallel zu den Schienen wachsen, sind kahl und erlauben den weiten Blick in die Stadt nur im Winter.
Alte Häuser, herrschaftlich anmutend, dann wieder Mietskasernen mit zahlreichen Mietparteien. Wer sind sie? Wie leben sie? Ein Flugzeug am wolkenlosen Himmel, von Tegel gestartet. Wo wird es die gutgelaunten Gäste hinbringen? Suchen sie die Sonne und Wärme in einem Urlaubsland, all inclusive?

In Wittenau steigt die Schulklasse aus dem Nachbarwaggon aus. Die Schüler stellen sich zu zweit nebeneinander auf und bilden eine Reihe. Die beiden Lehrer geben die letzten Anweisungen, einer positioniert sich vorne, einer hinten. Das hat Stil, das ist ein eingeübtes Ritual.
Das Stadtbild ändert sich. Längst haben wir die gutbürgerlichen Wohngebiete am Stadtrand verlassen. Berlin-Pankow. Die S-Bahn füllt sich. Ein weinendes Kind im Kinderwagen unterbricht Herz zerreißend die Stille. Die Mutter, eine junge und ausgesprochen hübsche Frau, redet arabisch und versucht, das Kind zu beruhigen, das nur in unzusammenhängenden Silben antwortet.

‚Nach Wannsee zurückbleiben.’ Häuser mit Balkonen, direkt an der S-Bahn, fast zum Greifen nahe. Wäscheständer mit frisch gewaschener Wäsche wenden der Sonne ihr Gesicht zu. Vorbei an einer Kleingartenkolonie. Mir fallen die vielen deutschen Fahnen auf, die sich sachte im leichten Wind bewegen. Relikte der letzten Fußballweltmeisterschaft? Oder eine gezielte Provokation: Deutschland den Deutschen!?

Ab dem Bahnhof Gesundbrunnen erfolgen die Ansagen erst in Deutsch, dann weitere Umsteigemöglichkeiten in Englisch. Eine Schulklasse steigt ein, die Schüler sind offenbar aus England. Es sind ausschließlich Jungen, pubertierend, mit vereinzelten Pickeln im Gesicht und viel Gel in den Haaren. Klassenfahrt mit Bildungsanspruch. Ihr Ziel: das ‚Brandenburg Gate’. Geschichte zum Anfassen, Pflichtprogramm.

Friedrichstraße – eine weitere Schulklasse steigt ein. Sardinendoseneffekt. Wohlfühlen geht anders und ein Wohlfühlaroma ist es auch nicht gerade.

Am Brandenburger Tor wird die boy group ausgespuckt. Es wird merklich leerer, damit auch ruhiger und gemütlicher. Die S-Bahn Rush Hour ist vorbei.

Bis zur Yorckstraße kann ich meine Fahrt ungestört fortsetzen, mein Buch lesen und mich dann meinem Fußmarsch widmen, der mich nach etwa fünfzehn Minuten ans Ziel bringt.

Es ist wärmer geworden. Die Sonne gewinnt an Kraft. Der Frühling naht.
© G. Bessen 2/16

Über Anna-Lena

Lehrerin im Un-Ruhestand, mit vielen Hobbys, die nichts mit dem Beruf zu tun haben. Ich lese viel, schreibe gern selber und fotografiere, was mir vor die Linse kommt.
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40 Antworten zu Unterwegs

  1. Deine Christine! schreibt:

    das hört sich vielversprechend an, denn hier heute klirrend kalt….

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  2. leonieloewin schreibt:

    Dann hoffe ich, dass es bald Frühling wird. Liebe Grüsse Leonie

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  3. Sylvia Kling schreibt:

    Endlich ein Text für meine Seele. Oh, es duftet bisweilen schon nach Frühling ☺.
    Herzliche Grüße
    Sylvia

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  4. minibares schreibt:

    Liebe Anna-Lena,
    eine interessante Bahnfahrt.
    Sonne hatten wir heute leider nicht.
    deine Bärbel

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  5. Rachel schreibt:

    Liebe Anna-Lena,
    wie sich doch die Zeiten ändern… die Frühlingssuche vor einem Jahr hätte sicher noch ganz anders geklungen… nun wehen die Fahnen, die vielen….
    Dein Text gefällt mir sehr!

    LG; Edith (Rachel war mal mein Nick-Name, lächel…)

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  6. Quer schreibt:

    Danke für diese schöne, poetische Bahnfahrt-Schilderung. Ich bin sehr gerne mitgefahren und habe auch noch den einen oder anderen Haltstellennamen im Hinterkopf – von unserem längeren Berlinaufenthalt vor ein paar Jahren.
    Herzlichen Gruss,
    Brigitte

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  7. Ingrid schreibt:

    Ich mag solche Ausschnitte und Beobachtungen aus dem Alltag sehr und du hast das anschaulich beschrieben, die ganze Fülle der mitmenschlichen Begegnungen.
    Liebe Wochenendgrüße. Es wird wohl wieder Lesewetter werden 😉

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  8. Brigitte schreibt:

    Eine unterhaltsame Beobachtung! Hat mir sehr gefallen!

    Lieben Gruß, Brigitte

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  9. Gudrun schreibt:

    Man kann schon seine Studien machen in den Öffentlichen, gell. Ich beobachte auch immer gern und ich lese auch gern solche Geschichten- Berichte. Ich bin ja fast nur so unterwegs und meist habe ich ein Buch mit, aber zum Lesen komme ich manchmal nicht.
    Liebe Grüße von der Gudrun
    PS: Dem Haltestellenansager in der S-Bahn könnte ich stundenlang zuhören. 🙂

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    • Anna-Lena schreibt:

      Ich fahre ja selten mit den Öffentlichen, nur nach Berlin rein, wenn es für mich auch schneller und praktischer ist. Somit ist es immer ein Erlebnis, Menschen zu beobachten.
      Wenn ich zur Arbeit fahre, sehe ich zehn Kilometer nur Bäume, die erkenne ich auch schon an den Nadeln :mrgreen: .

      Ich wünsche dir ein schönes Restwochenende,
      Anna-Lena

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  10. Agnes schreibt:

    So eine schöne Geschichte, mitten aus dem Leben, alles so wunderbar beobachtet, dazu Deine Gedaken am Rande „… Mietskasernen mit zahlreichen Mietparteien. Wer sind sie? Wie leben sie?“
    Über die Aussage „Wohlfühlaroma“ habe ich sehr schmunzeln müssen.
    Ich mag Deine Geschichten, sie sind sehr unterhaltend.
    Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende wünsche ich Dir
    Agnes

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  11. bruni8wortbehagen schreibt:

    Kein Geplänkel, lese ich in Deiner Kommentarantwort und stelle fest, Dein Text von Deiner Fahrt mit den Öffentlichen ist genau so interessant und lesenswert.
    Ein Stimmungbild, das so vieles zeigt, und die unguten Gefühle über die seltsam vielen aufgehängten Fahnen kann ich so gut nachvollziehen.
    Ich habe ja schon Probleme damit, wenn ich sie bei bestimmten Länderspielen überall hängen sehe…

    Lieber Gurß von mir in die Nacht von Bruni an Dich ♥

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    • Anna-Lena schreibt:

      Die relative Stille ergab einfach kein hinreichendes und erwähnenswertes Geplänkel. Aber das macht ja gar nichts, wir sind doch flexibel, oder?
      Liebe Grüße zur Wochenmitte,
      Anna-Lena

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  12. Winnie schreibt:

    Na, wenn dein Ziel Yorckstraße ist, dann sollten wir uns doch einfach mal da treffen, … ich arbeite eine Station davor (Anhalter Bahnhof) 😉

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